Tag 16

Tag 16

Einer meiner Söhne lebt in Kolumbien. Heute ist er nach Deutschland geflogen, um den Dezember in der Heimat zu verbringen. Er fliegt Business Class, was bei der Menge an Flügen, die er absolviert, großen Sinn macht. Er schrieb mir, dass neben ihm eine Frau Anfang 50 sitzen würde, die unfassbar unzufrieden aussähe und er könne die Unzufriedenheit dieser Frau neben sich körperlich spüren. Nun ist er der Sohn seiner Eltern und hat viele Jahre auf Wochenmärkten Kartoffeln verkauft. Wir können uns auf seine Menschenkenntnis verlassen. Unzufrieden in der Business Class mit Anfang 50. Was macht so viele Menschen meiner Generation unzufrieden? Mit dieser Frage im Kopf bin ich mehr als 2 Stunden durch den Schnee gestapft und möchte Euch an meinen Gedanken dazu teilhaben lassen.

Eckhart Tolle (ich habe nochmal nachgesehen, so ist sein Vorname richtig geschrieben, nicht wie in Tag 11) sagt in „Jetzt“ sinngemäß folgendes: Nimm an, Du würdest Dich in einem Zustand absoluter Glückseligkeit befinden. Nach einer Weile würde Dir dein Verstand dazwischen funken und sagen „jaaaa, aber…“. Egal, wie glücklich wir sind, nach einer Weile findet unser Verstand das Haar in der Suppe. Wir können also nicht beständig Glück empfinden. Entspricht meiner Erfahrung.

Neale Donald Walsh fragt irgendwo in „Gespräche mit Gott“ voller Frust „was ist der Sinn des Lebens“ und Gott antwortet unglaublich lapidar „Probleme lösen. Es gibt sonst nichts zu tun“. Als ich die Stelle das erste Mal las, hat es mich erst gebröselt und dann habe ich gefeiert. So klar, so platt, so einfach. So isses...

Martin Seligman spricht von Kontingenz. Er meint damit, dass wir Einfluss haben wollen auf die Welt und unser Leben, dass wir etwas bewirken wollen und dass uns das Gegenteil von bewirken können, die Hilflosigkeit, krank macht. Wenn wir hilflos sind, nichts ausrichten können, werden wir erst unzufrieden und landen dann in der Depression, wenn wir Pech haben. Vera Birkenbihl ergänzt, dass unsere ganzen Helferlein, all die Dinge, die uns das Leben leichter machen, uns gleichzeitig auch die Möglichkeit nehmen, etwas zu bewirken und uns in Richtung Hilflosigkeit schicken. Leuchtet mir irgendwie auch alles ein. Mit diesem Gedankenknäuel war ich unterwegs, immer geradeaus bei -6° Grad.

Das Gefühl von Glück ist flüchtig wie ein scheues Reh und muss immer wieder neu eingefangen werden. Probleme lösen gibt unserem Leben Sinn und wir wollen etwas bewirken können in der Welt und im Grunde nicht alles abgenommen bekommen. Aha, okay. Dann haben wir auf der einen Seite die Frau in der Business Class und auf der anderen Seite die Küchenfrau hier im Kloster.

Unsere Zimmer, die Küche und der Speisesaal liegen alle an einem Flur. Darum kenne ich ihren Tagesbeginn. Ab 5:30 Uhr höre ich sie klappern. Wahrscheinlich den Holzherd anfeuern. Sie kocht täglich zwei warme Mahlzeiten für 8-10 hungrige Männer und sich selbst. Alles ist handgemacht, handgeschnippelt, handgeschält. Keine Ahnung, wie die Haut an ihren Händen es aushält, so oft am Tag mit Wasser in Berührung zu kommen. Gekocht wird auf dem Holzherd in einem Kessel, der ein Loch in der Ofenplatte schließt. Direkt unter dem Kessel lodern die Flammen und die Temperatur wird über mehr oder weniger Holz geregelt. Wobei weniger schwierig ist, wenn der Scheit erst mal drin ist im Herd. Jetzt haben wir hier 18:10 Uhr und nach der Messe werden noch allerletzte Dinge erledigt in der Küche. Also lockere 12-Stunden-Tage und seit ich hier bin, hatte sie noch keinen Tag frei. Das, was sie macht, ist Schufterei, da gibt es für mich keinerlei Fragen. Aber diese Frau ist weit entfernt davon, einen unzufriedenen Eindruck zu machen. Manchmal sieht sie müde und angestrengt aus, doch sie ist ausgeglichen, liebevoll und fürsorglich zu ihren Männern. Ich wette jeden Betrag, dass unsere Küchenfrau in ihrem Leben eine psychiatrische Praxis von innen, wenn überhaupt, dann nur zu Besuch sehen wird. Sie bewirkt jeden Tag etwas. Was bewirkt die Frau in der Business Class täglich in ihrem Leben?

Vielleicht verrenne ich mich in den Gedanken, dass wir aufpassen müssen, uns nicht selbst in bester Absicht in die Entmächtigung, in die Hilflosigkeit, in die Unzufriedenheit und schließlich in die Krankheit zu führen. Doch für mich persönlich kann ich ganz klar feststellen, dass Hilflosigkeit im Sinne von „nichts bewirken können“ bei mir regelmäßig Krankheit, sowohl körperlich als auch geistig, ausgelöst hat. Das hat die heutige Rückschau eindeutig ergeben. Davon abgesehen macht die Wärme einer computergesteuerten Heizung zwar die Bude warm, aber nicht glücklich. Ein Kaminfeuer, wo du vom Holz ranschaffen über spalten bis zum Aschekasten leeren alles selbst gemacht hast, macht warm und glücklich. Das liegt nicht nur an der „wohligen Wärme“ sondern an der Befriedigung, es alles selbst gemacht zu haben. Darum machen Kaffee-Vollautomaten auch nur Kaffee und keinen Spaß.

Für mich ist die Konsequenz aus dem Stapfen im Schnee, künftig noch mehr darauf zu achten, dass ich ausreichend bewirken kann in meinem Leben. Danke für den Anstupser, mein Sohn.

Die Küche, in der Leben bewirkt wird.

4 Gedanken zu „Tag 16

  1. Rebekka

    Lieber Götz,
    ich genieße mal wieder deine Gedanken vor dem schlafen gehen. Danke.
    Da fällt mir unser Gespräch wieder ein, wo ich sagte, ich will nicht gerettet werden. Weil es mich hilflos macht.
    Tolle Zitate hast du da gesammelt. Schön zu lesen.
    Und … Ein Kaffeeautomat macht Kaffee, keinen Spaß. Sehr süß ????
    Liebe Grüße, Rebekka

    • GoetzWache2018 Autor des Beitrags

      Irgendwann mache ich Dir einen Cappuccino mit meiner manuellen Maschine. Da bekommt der Spruch noch mehr Gewicht. 🙂

  2. Regine

    Lieber Götz,

    ich bin ganz bei dir mit dem Thema das Hilflosigkeit uns krank macht. Habe mich gestern entschieden meine Hilflosigkeit gegenüber den Unverschämtheiten meines Arbeitgebers abzulegen und bin losgestampft (leider nicht im Schnee). Jetzt wehre ich mit allen gesetzlich erlaubten Mitteln. Und es macht mich tatsächlich frei. Weg vom ausharren, hin zur Tat. Mir geht es dadurch besser auch wenn es vielleicht ein aussichtsloser Kampf wird. Egal.
    Der Moment zählt.
    Bin gespannt wann wir wieder mit gleichen Themen beschäftigt sind.
    Drück dich

    Regine

    • GoetzWache2018 Autor des Beitrags

      Wie schön zu lesen. Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom… Boah ey… wo der nun schon wieder herkommt. Ich habe ein Gedächtnis für unnützes Wissen… unglaublich.

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