Tag 32
Dieser Tag war durchwachsen. Ich habe schlecht geschlafen, nachdem ich gestern am späten Abend noch eineinhalb Stunden lang mit einem Freund in Berlin telefoniert habe. Er ist seit Jahrzehnten als Trainer und Coach unterwegs, der die Dinge in unnachahmlicher Manier auf den Punkt bringt. Nach einer mehrmonatigen Schwangerschaft hat er jetzt den Entschluss geboren, im nächsten Frühjahr ein Projekt zu starten, das Menschen bei der Bearbeitung ihrer persönlichen Probleme zu einer wirklichen Lösung führt, in dem der Kern des Ganzen angegangen wird. Kein Gedaddel mit den Symptomen, kein Konjunktivismus im Sinne von hätte, könnte, sollte, müsste, sondern Ursachenforschung und Ursachenauflösung. Am Ende des Telefonats waren wir ganz nah dran an einem Begeisterungsrausch. Wenn ich sowas direkt vorm Schlafengehen bekomme, nehme ich es mit ins Bett und meine Birne arbeitet die ganze Nacht daran. Entsprechend unerholt bin ich aufgewacht.
Gegenüber wird bekanntlich gebaut. Die Jungs haben genau 6 Monate Zeit, ein Haus vom ersten Spatenstich an fertig zu stellen. Dann beginnt die nächste Urlaubssaison und während der Saison herrscht hier Bauverbot. Die Fertigstellungstermine sind vertraglich fixiert, bei Nichteinhaltung drohen empfindliche Vertragsstrafen und es werden grundsätzlich Kostenpauschalen vereinbart. So bestimmt deine Arbeitsgeschwindigkeit letztendlich deinen Stundenlohn und rechtzeitig fertig werden macht großen Sinn. Das weiß ich inzwischen alles von Fikret und so erklärt sich auch die Bautätigkeit am Freitag. Nix javas, javas und egal, dass der Muezzin ruft, die Bude muss fertig werden. „Nen Schlach reinhaun“ würde mein Freund Kai aus dem hohen Norden jetzt sagen.
Heute war ein Sänger auf’m Bau. Wir kennen das aus italienischen Filmen der 50er Jahre, wenn der Pizzabäcker beim Teigkneten Arien schmettert. So war das hier heute Morgen in aller Frühe auch. Nur auf Türkisch und ohne Teig und unterbrochen vom Lärm der Maschinen. Ein einmaliges Drama, für mich ohne Bild, nur Ton, denn sehen konnte ich ihn nicht. Volle Lotte Ariengeschmetter…, Bohrmaschine…, Arie…, Bohrmaschine…, Arie…, Kompressor…, Arie…, Flex…, Badezimmer. Nicht er ins Badezimmer, sondern ich. Eine Flex, die sich durch Metall kreischt, ist ein Geräusch, das mich zuverlässig aus dem Bett treibt. Nach dem Bad war er wohl heiser. Auf jeden Fall kein Gesang mehr.
Beim Checken von WhatsApp bekomme ich heute zum x-sten Male ein Video von einem Sprecher, der vor sehr vielen Menschen einen Vortrag über einen 50-EURO-Schein hält. Das Video geht im Augenblick im Netz ab wie die Luzie, ich zähle schon nicht mehr mit, wie oft ich es bekommen habe. In 1:33 erklärt er, dass der Geldschein sein Wert behält, egal was wir mit ihm machen. Wenn wir ihn zerknüllen, drauf rumtrampeln, ihn schmutzig machen, 50 Tacken sind 50 Tacken. Der Schein behält seinen Wert, egal ob er im Dreck liegt oder in einem Louis-Vuitton-Portemonnaie aufbewahrt wird. Da hat der Redner Recht. Dann nimmt er die Kurve zu uns Menschen. Wir würden glauben, dass wir was besonders leisten müssten oder in edlen Stoffen stecken müssten, um etwas wert zu sein. Und wenn dann jemand kommt und auf uns herumtrampelt, würden wir uns wertlos fühlen. Bis hierhin bin ich bei ihm. Dann kommt die Schlussbotschaft „Leute, ihr seid immer wertvoll, sag es dir so oft wie möglich“. Damit hat er mich heute vergrätzt. Das war nicht das, was ich gerne gehört hätte. Ich weiß, dass ich ihm bestimmt Unrecht tue und dass er bestimmt weit mehr gesagt hat, als in diesen 1:33 drin ist, aber dieser Appell ans Bewusstsein ist so sinnlos, dass es mich heute wütend gemacht hat. Richtig wütend. Da hat es noch nicht mal geholfen, die ganze Wohnung durchzuwischen, um genügend Dampf abzulassen. Wahrscheinlich hatte ich einfach eine schlechte Tagesform und hätte das Video an einem anderen Tag ganz lustig gefunden, doch man kann sich jahrelang vorquatschen, dass man wertvoll ist. Wenn Deine Glaubenssätze andere sind, kommt irgendein Spacken um die Ecke und zerbröselt dein mühsam errichtetes Persönlichkeitskartenhaus in weniger als einer Sekunde. Das ist Millionenfach erprobt. Das ist genauso sinnvoll wie der nächste Diät-Hype für die dauerhafte Lösung von Figurproblemen. Menschen brauchen echte Lösungsansätze für echte Probleme. Die gibt es, inzwischen weiß man, wie es geht und nun gilt es, die Sache umzusetzen. Ich möchte keine Oberfläche mehr, ich will Tiefe.
In der Stimmung raus in den Regen, raus an den Strand. Hunde getroffen. Hunde helfen immer und mit Hunden im Regen am Strand laufen, hilft am meisten.
Zurück in der Wohnung koche ich mir einen Tee und telefoniere mir Ines. Die Spooky-Ines mit der Body-Talk-Fernbalance, ihr wisst schon… 😉 Ines hat das Video auch bekommen. Seit Ines das Video kennt, sagt sie ihrem Sohn Paul, 8 Jahre alt, jeden Tag, dass er ein wertvoller Mensch ist und Paul antwortet „Mama, ich bin ein wertvoller Mensch“. Diese Nachricht söhnt mich erstmal mit der Sache aus. Wenn ein 8-jähriger davon auf diese Art und Weise profitiert, ist es vielleicht doch ein Beitrag in die richtige Richtung.
P.S.: Bisher habe ich die Videos immer direkt hier auf herrwache.de über WordPress eingebunden. Nun habe ich einen YouTube Channel eingerichtet und die Videos von dort verlinkt. Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr in den Kommentaren Eure Meinung kundtun würdet, was Euch angenehmer erscheint.
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