Tag 41

Tag 41

Früh aufgewacht. Recht so, da hat man mehr vom Tag. Lese noch im Bett die Nachricht eines Freundes, der mir schreibt, dass er morgen mit seinen kleinen, süßen Kindern ins Erzgebirge fährt, um in seiner Heimat bei seinen Eltern Weihnachten zu feiern. Weihnachten im Erzgebirge ist für mich irgendwie die Maximierung von Weihnachten. Mehr geht nicht, als dort im Schnee zu sein, wo die Weihnachtsdekoration für ganz Deutschland per Hand geschnitzt und per Hand bemalt wird. Seine Nachricht endet mit der Frage „Wie geht es Dir?“ Eine eigentlich einfache und unter Freunden oft gefragte Frage, die wir meistens mit einer Floskel beantworten. In Westfalen ist die gepflegte Malocher-Antwort „muss ja…“, was schon mal einen tiefen Einblick in die grundsätzlich überschäumende Lebensfreude des westfälischen Menschenschlags bietet. Und damit wird man dann ins Leben entlassen. Aber das nur nebenbei, woll… 😉

Wie geht es mir? Ich bin knapp über der Mitte meiner Reise und so geht es mir auch. Viel liegt hinter mir, großartige Erfahrungen und viel Dankbarkeit für alles, gepaart mit Vorfreude, angespannter Erwartung und auch einem mulmigen Gefühl bei dem, was noch auf mich zukommt. Unser Pendeln als Mensch zwischen dem Wunsch nach Autonomie und dem Wunsch nach Bindung sorgt für Entwicklung, ist aber auch ein Zufriedenheitsverhinderer. Das ist meine Antwort noch vor dem Frühstück per WhatsApp.

Ein Kollege, eigentlich kennen wir uns so gut wie gar nicht, haben aber bei den wenigen Treffen im Kollegenkreis einen Draht zwischen uns bemerkt, schreibt mir eine E-Mail voller warmer Worte. Er hängt an die E-Mail diese Präsentation dran, wo ein Typ bei der Hotline anruft, weil er Schwierigkeiten hat, das Programm LIEBE bei sich zu installieren. Die Präsi ist schon älter und viele von Euch werden sie kennen. (Schreib in den Kommentar wenn nicht, dann bastele ich eine Downloadmöglichkeit. Muss man haben, das Ding.) Jedenfalls, wenn du erst über Weihnachten im Erzgebirge nachdenkst, dann über Bindung und Autonomie und dir dann diese Präsi reinziehst und das alles noch im Bett, da brauchst du ne große Packung Tempotücher. Alter Falter, da wirst du noch vor dem ersten Kaffee ordentlich durchgeschüttelt.

Bindung und Autonomie beschäftigen mich dann noch weiter. Wenn du geboren wirst und alles halbwegs normal läuft, wirst du als Erstes von Mama in den Arm genommen. Das erste Gefühl, wenn du aus dem Mutterleib rausgequetscht worden bist. Alles wird gut, solange dich jemand in den Arm nimmt. Weihnachten ist das Fest der Bindung, des in-den-Arm-nehmens. Ich habe für mich in diesem Jahr bewusst und willentlich das Alternativprogramm, die Autonomie gewählt. Ist auch gut so. Die Erfahrung will ich haben, doch das wird kein Dauerzustand, so viel ist klar. Wenn du dich am Ende fühlst, klein, verloren, hilflos und hoffnungslos, dann möchtest du in den Arm. Kein Besitz, kein Erfolg, keine Muskeln, kein gar nichts kann das ersetzen. Erst Menschlichkeit, dann alles andere. Diese Erkenntnis durchdringt mich, als ich auf dem Rücken liege und Sit-ups mache, um unter der Speckschicht wenigstens ein bisschen Muskulatur zu erhalten. Irgendwie gaga, diese Kombination von körperlicher und geistiger Tätigkeit, doch so war‘s. Wenn ich über den Anfang nachdenke, denke ich auch über das Ende nach. Wenn schon, denn schon. Wenn ich ganz großes Glück habe, sterbe ich im Arm eines geliebten Menschen. Das wäre was, dann schließt sich der Kreis. Einfach einschlafen und im letzten Moment des irdischen Daseins das Gefühl mitnehmen, mit dem alles begann. Das wäre eine große Gnade, dachte ich heute Morgen.

Weitere Nachrichten trudeln ein. Ich habe Familie und ich habe Freunde. Ich bin nicht allein, es gibt Menschen, denen ich etwas bedeute. Es gibt wohl keine Worte für das Gefühl, dafür, was es mir bedeutet, ein Menschenkind auf dieser Erde zu sein, das von anderen gesehen, gewertschätzt und geachtet wird. Ich habe mich früher so oft ganz allein, ohne Bindung zum Rest der Welt gefühlt. Durch den Krebs ist alles anders geworden. Vielleicht war es schon immer so und ich habe es nicht bemerkt, warum auch immer. Aber der Krebs hat Freunde und tiefe Bindung in mein Leben gebracht. Es war der letzte, der ultimative Anschubser meiner Seele und Gott sei Dank habe ich mich bewegt.

Es sind noch ein paar Dinge für meine Rückkehr nach Deutschland telefonisch zu regeln, weil sich Rahmenbedingungen positiv verändert haben. Eine Freundin, bei der ich für einige Tage unterkommen werde, liegt am 23.12. mit Fieber und Magen/Darm im Bett. Sensationeller Stoff für eine spirituelle Betrachtung… 🙂

Am Ende des Gesprächs steht bei mir die Erkenntnis, dass ich mir keine Verantwortung für das Leben von anderen, erwachsenen Menschen mehr überhelfen lasse. Egal, wie hübsch der Scheiß auch verpackt wird, inzwischen rieche ich den Inhalt, durchschaue auch die kunstvollsten Schleifchen und weise die Geschenke zurück. Wie sagt mein Ältester in solchen Momenten so unnachahmlich: „Du bist über 18 und geimpft, es ist Dein Leben, es ist Deine Verantwortung.“ Jau und ich kann sie endlich dort lassen, wo sie hingehört. Zusammengefasst ein geiler Tag.

Ich wünsche Euch ein Weihnachtsfest, wo Ihr vor Zufriedenheit und Glück strahlt, wie ein kleines, rosa Marzipanschweinchen. Ich mach ein paar Tage Pause, bis denne.

 

4 Gedanken zu „Tag 41

  1. Robert

    Lieber Götz,

    frohe Weihnachten wünsche ich Dir von ganzem Herzen und lass es Dir gut gehen.

    LG Robert

  2. Jörg Heinicke

    Lieber Götz, Du machst das richtig.
    Weihnachten in Deutschland, hat nichts mehr mit Besinnlichkeit zu tun.
    Es ist sogar die besinnungsloseste Zeit des Jahre geworden.
    Die Menschen shoppen sich besinnungslos, nur so schein ihr an Besinnung armes Leben noch erträglich zu sein. Ich habe 3 Tage a 14 Stunden harter Arbeit auf meiner Baustelle hinter mir. Das hat wieder mal gut getan.
    Gute Musik, viele gute und interessante Gedanken und letztendlich ein achtbares Ergebnis.
    Ich als Atheist komme gut ohne einen Gott klar.
    Mir reicht eine Aufgabe, die mich voll und ganz erfüllt.
    In diesem Sinne frohe Weihnachten, mein lieber Freund!
    Jörg

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