Tag 56
Gestern Abend hat es wieder in Strömen geregnet und ich habe mich nicht getraut, den Laptop einzuschalten. Beim letzten Regentag habe ich tatsächlich das Leben meines Gerätes riskiert, es war so feucht, dass er eine halbe Stunde Systemzeit verloren hat. Für die Nichttechniker: er war eine halbe Stunde lang tot und es war reines Glück, dass er sich von alleine wieder berappelt hat. Gestern Vormittag habe ich den Ausflug zu einer nahegelegenen Plantage mitgemacht, die einem Mitarbeiter des Bali Mandala gehört. Er hat uns selbst mit einem Kleinbus dorthin gefahren und der Start war logischerweise auf Meereshöhe. Die Fahrt führte uns über Serpentinen, die diesen Namen wirklich verdienen, bis auf gute 700 m Höhe. Vor jeder unübersichtlichen Kurve wurde kurz gehupt, um die gegenseitigen Überraschungsmomente so klein wie möglich zu halten. Mitten im Urwald liegt dann eine Plantage, auf der Kaffee, Vanille, Bananen, Chili, Nelken, Kakao und was weiß ich nicht noch alles angebaut werden. Nach meiner Besichtigung einer großen Kaffeeplantage in Kolumbien im Oktober 2017 hatte ich natürlich bestimmte Erwartungen und bestimmte Bilder im Kopf. Das war hier knapp anders. Mitten im Urwald liegt das Haus für die Arbeiter mit kleinen Nebengebäuden und von dort wurde zu Fuß in Plantage gestartet. Ohne unseren Führer ich hätte auf jeden Fall keine einzige Nutzpflanze von den sie umgebenden anderen Pflanzen unterscheiden können. Für mich war wie immer alles nur unfassbar grün. Vorneweg ein Arbeiter der Plantage, bewaffnet mit einem Ding, was ich als Mischung zwischen einem ganz langen Messer und einer Sichel bezeichnen würde. Sein einziges Werkzeug. Entsprechend virtuos hat er es in multifunktionalem Einsatz bedient. Ob es darum ging, uns den Weg etwas frei zu kämpfen oder beim einsetzenden Regen fix ein paar Blätter von einem Baum abzuschneiden und sie uns als Regenschutz zu überreichen, war gleichgültig. Aus irgendeinem Grunde war ich davon ausgegangen, dass auf der Plantage während unserer Wanderung Sonnenschutz extrem wichtig sei. Weit gefehlt. Die Vegetation schützt weitgehend vor fieser Sonneneinstrahlung und bietet im Gegenzug den heimischen Blutsaugern wunderbare Lebensbedingungen. Wenn dann auch noch ein ahnungsloser Deutscher auftaucht in kurzer Hose und kurzärmeligem Hemd und statt Insektenabwehr antiallergenen Sonnenschutz aus der deutschen Apotheke aufgetragen hat, feiern die einheimischen Mücken Weihnachten und Ostern auf einem Tag. Davon habe ich heute noch was.
Unser Führer hat uns erzählt, dass seine Plantage seit fünf Generationen im Familienbesitz ist. 9 ha, mitten im Urwald, die neben seiner Familie noch die Familien seiner 15 Arbeiter ernähren. 9 ha sind die Maximalgröße für Landbesitz in Indonesien. So will es das Gesetz. Er darf sich also zu den Großgrundbesitzern zählen oder auch nicht, je nachdem, für was man 9 ha hält. Das Ende der Veranstaltung bestand aus einer Verköstigung des Kaffees der Plantage. Sehr milder Stoff, weit entfernt von dem gewohnten Geschmackserlebnis aus einer deutschen Großrösterei.
Rückfahrt. Ich war der einzige Mann der Besuchergruppe und hatte für Trockenpflanzen ja noch nie den rechten Sinn. Die Mädels wollten ihre Regenschirmblätter dagegen auf jeden Fall mit zurück zum Ressort nehmen. Anhand des Fotos könnt ihr ja die Größe eines solchen Blattes recht gut einschätzen. Ich bin sehr gespannt, wie das finale Schicksal der mitgenommenen Blätter schlussendlich aussehen wird. Mir fehlt jedenfalls die Fantasie, wie ein solches Blatt heile in einem Koffer nach Hause transportiert werden soll.
Wenn man die Serpentinen rauf gefahren ist, muss man ja irgendwann und irgendwie auch wieder runter. Beim Erklimmen der Steigungen musste der Fahrer diverse Male in den ersten Gang zurück schalten, weil die Kraft des vollbesetzten Fahrzeuges im zweiten Gang nicht ausreichte. So war ich dann etwas gespannt, wie die Bremsen des Wagens den Abstieg verkraften würden. Wie schon beim Weg zum Wasserfall durfte ich auch hier feststellen, dass der Fahrer weiß, was er tut. Sehr souveränes Handeln. Im Ressort gab es dann noch 3 Stunden Sonne und gegen Abend setzte der tropische Regen ein. Man hat ja schon viel gehört vom Wetterwechsel in den Tropen, doch es persönlich zu erleben, ist noch mal ein anderer Schnack. Die Wechsel vollziehen sich teilweise mehrfach am Tag von einem Extrem ins andere und wieder zurück binnen 30 Minuten. Nachdem ich jetzt eine gute Woche hier bin, darf ich für mich persönlich doch feststellen, dass ich nicht so sehr der Typ für extreme Luftfeuchtigkeit bin. Das permanente Schwitzen, die meist klebrig-feuchte Hautoberfläche und das Gefühl, dass alles was ich anfasse, inklusive meiner Bettwäsche, feucht ist, führt nicht direkt zu einer Steigerung meines Wohlbefindens. Dazu kommt die Erfahrung, dass die weiblichen balinesischen Stechmücken schon seit Monaten von meinem Aufenthalt hier wussten und mit ihrer Fortpflanzung so lange gewartet haben, bis ich mit meinem Qualitätsblut zur Verfügung stand. Ich hasse diese Drecksviecher.
Gine hat in ihrem letzten Kommentar geschrieben, dass die Dortmunder den Eindruck haben, ich sei etwas müde. Sehr fein beobachtet, Mädels. Körper und Geist haben große Mühe, sich hier zu akklimatisieren und beispielsweise in die türkische Leichtigkeit zurückzufinden. Ich habe das Gefühl, mein Immunsystem kämpft einen heroischen Kampf gegen irgendeinen Infekt und fühle mich entsprechend. Auch vom Herzen her kann ich meinen aktuellen Zustand noch nicht wirklich greifen, noch nicht in Worte fassen. Ich will jetzt nicht googeln, sondern einfach auf Erinnerungsfragmente aus ewig vergangenem Religionsunterricht zurückgreifen. Jesus ist für 40 Tage auf den Berg Sinai gegangen und als ein anderer, mit neuen Erkenntnissen, mit neuen Botschaften wieder hinab gestiegen. Ich hoffe, dass ich jetzt niemandem auf die religiösen Füße trete, wenn ich sage, dass meine Reise mein Berg Sinai ist.
Vor 30 Jahren habe ich ein Buch zum Thema Synergie geschenkt bekommen. War Ende der achtziger ein total hippes Thema. Darin war eine Grafik abgebildet, die ich bis heute vor Augen habe. Man befindet sich auf irgendeiner Ebene der Entwicklung und möchte sich auf die nächste Ebene entwickeln. (Horizontaler Strich auf einem Blatt.) Die Entwicklung nach oben erfolgt in kleinen kontinuierlichen Schritten, die jeder für sich einen winzigen Fortschritt, eine winzige Erhöhung Richtung nächster Ebene darstellen. (Strich geht in kleinen Stufen weiter.) Ganz zum Schluss, unmittelbar vorm erreichen der nächsten Ebene setzt jedoch schieres Chaos ein. (Kleine Stufen gehen in große Wellen über.) Es geht in wilden Ausschlägen rauf und runter, teilweise weit unterhalb bereits sicher geglaubter Ebenen, um dann auf einmal – Zack – die nächste Ebene zu erreichen. (Letzte Welle springt nach oben und verläuft dann als horizontaler Strich weiter. Jetzt nachmalen!) Hier auf Bali passieren Dinge, die mich an die Chaosphase der Grafik erinnern. Ich habe noch elf Tage, bevor ich wieder deutschen Boden betrete. Mal schauen, was ich draus mache.
Ich habe heute die Umbuchungen vorgenommen und bin im Grunde sehr froh, dass meine Reise auf Bali endet. Ist richtig so, war vorher so nicht zu sehen, doch Gott gibt es mir auf dieser Reise mit der ganz großen Kelle, damit es auch sein blöder Sohn Götz irgendwann mal versteht und ins Vertrauen kommt. Außerdem werde ich so noch meinen Sohn Bastian und seine Freundin Diana für einen Abend in Hamburg sehen können, was mein Vaterherz jubeln lässt.