Tag 61
Nach Yogastunde und Frühstück bin ich gestern im Meer schwimmen gewesen, raus bis zum Ponton, obwohl ein für hiesige Verhältnisse recht hoher Wellengang herrschte. Es war mir wichtig, denn ich wollte meine Armbanduhr dem Meer übergeben. Sie war ein Geschenk meiner zweiten Ehefrau, erworben bei einem Juwelier im Wedding an der Ecke Seestraße/Müllerstraße, wo ich sie irgendwann einmal im Schaufenster erspäht hatte. Eine hochwertige Automatik Fliegeruhr einer sächsischen Uhrenmanufaktur aus Glashütte. Faszinierend, wie eine Uhr zum Spiegelbild einer Ehe werden kann. Als unsere Ehe noch in Ordnung war, hatte diese Uhr eine Gangabweichung von weniger als 1 Minute pro Woche. Wer sich damit auskennt weiß, das ist ein sehr, sehr ordentlicher Wert. Je schwieriger unsere Ehe wurde, desto häufiger war diese Uhr zu Besuch beim Uhrmacher, um kurz vor der Trennung eine Gangabweichung von bis zu 20 Minuten am Tag zu haben und damit als Uhr unbrauchbar zu werden. Ich habe sie dann abgelegt, aber aufbewahrt. Im Sommer des vergangenen Jahres kam mir die Idee, dass es doch schade sei, eine so teure und eigentlich doch sehr gute Uhr nicht zu benutzen. So brachte ich sie zu einem sehr erfahrenen Uhrmachermeister in der Pichelsdorfer Straße in meinem Kiez und ließ sie herrichten. Obwohl ich regelmäßig das vage Gefühl hatte, dass es sich irgendwie nicht wirklich gut anfühlt, ein Geschenk von dieser Frau an meinem Handgelenk zu tragen, habe ich sie dennoch jeden Tag umgebunden. Den ersten Schritt zur endgültigen Trennung hat dann die Uhr vollzogen. Am 21. Dezember 2018 wollte ich sie stellen, habe die Krone herausgezogen und es hat fühlbar „Knack“ gemacht. Danach ließ die Krone sich nicht mehr bewegen, weder vorwärts oder rückwärts noch in die ursprüngliche Position. So habe ich sie abgelegt, weil unbrauchbar geworden, sie jedoch mit hierher nach Bali genommen. Das Reading mit Mario und meine darauf hin einsetzenden Gedanken und Gefühle haben mir klargemacht, dass es Zeit für einen radikalen Trennungsschritt ist. So habe ich mir die Uhr ein letztes Mal umgebunden, bin rausgeschwommen zum Ponton, habe sie vom Handgelenk genommen, mich auf dem schaukelnden Untergrund aufgerichtet, um an Höhe zu gewinnen und die Uhr dann mit aller Kraft so weit wie möglich ins Meer geworfen. Danach habe ich es mir auf den Brettern noch eine Weile gemütlich gemacht und dabei Geräusche der Freude der Erleichterung von mir gegeben. Ein weiterer Faden aus einem früheren Leben ist durchtrennt.
Für den Nachmittag gestern hatte ich einen Termin beim Heiler vereinbart. Ein sehr freundlicher Einwohner der Insel, der im Hauptberuf sein Geld als Orangenpflücker verdient. Alle, die ihn kennen und der deutschen Sprache mächtig sind, loben ihn in höchsten Tönen. Er hätte zwar keinerlei medizinische oder therapeutische Ausbildung, würde jedoch die mir innewohnenden Defizite, Mängel und Beschwerden erfühlen und mit seinen Händen mindestens mal zur Linderung beitragen. Klang verlockend. Nach dem Reading mit Mario und nach der besuchten Trauerfeier war die Massage beim Heiler gestern das dritte Ding in kurzer Zeit hier auf Bali, an diesem besonderen Ort, für das ich eigentlich keine Worte habe, um die Stunde auf der Liege unter den Händen dieses Mannes für einen Dritten nachfühlbar zu machen. Was es vielleicht für euch ansatzweise nachvollziehbar macht: ich habe seit meinem elften Lebensjahr eine große Narbe auf dem rechten Oberschenkel. Bei einem Unfall mit meinem Fahrrad sind einige Stränge der Muskulatur im Oberschenkel durchtrennt und wieder zusammengenäht worden im alten Kreiskrankenhaus meiner Heimatstadt Lübbecke. Logisch, dort wo der Muskel zusammengeflickt wurde, habe ich innen eine Narbe. Berührungen in dem Bereich, die intensiver sind als ein zartes Streicheln lösen bei mir seit 46 Jahren heftiges Unwohlsein und ziemlich intensive Abwehrreaktionen aus. Die Frauen meines Lebens könnten euch das bestätigen. Irgendwann gestern war der rechte Oberschenkel dran und ich habe ihn gewähren lassen. Er hat sich herantastet, hat in die Tiefe gefühlt, gedrückt, massiert, gestrichen und es hat sich Energie gelöst. Dort hat seit dem November 1972 eine dunkle Kraft gesessen, die bei intensiver Berührung Gefühle von massiver Bedrohung ausgelöst hat. Gestern ist eine Woge durch meinen Körper gegangen und danach war Frieden. Ich konnte kein Wort mit ihm wechseln, doch ich hoffe zutiefst, dass er meine laufenden Tränen als das interpretiert hat, was sie gestern waren und heute beim Schreiben sind: Dankbarkeit, tiefe Dankbarkeit. Wenn ich sein Gesicht richtig interpretiere, haben er und ich gestern ein Meisterstück in nonverbaler Kommunikation abgeliefert.
Für heute hatte ich meine zweistündige Massage vereinbart. Der Heiler gestern war extra, ansonsten sind in meinem ursprünglich gebuchten Wellnesspaket sieben Massagen enthalten, eine davon über zwei Stunden. Ich bin noch nie in meinem Leben zwei Stunden lang nonstop massiert worden. Es war eine traditionelle balinesische Massage mit Anleihen aus dem Ayurveda. Irgendwann hatte ich das Gefühl, mich in einen 85 kg schweren Haufen aus Schokolade zu verwandeln, der ganz langsam aber sicher unter den Händen der Masseurin mit der Unterlage verschmilzt. Wer noch nie das Vergnügen hatte, so lange massiert zu werden, bis er Raum, Zeit und sich selbst vergisst: machen.